Besonderheiten der schweizerischen Verfassung und ihre Wahrung im Verhältnis zur Europäischen Union

| EUdentity 2019

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Előadó:
Mrs. Martha Niquille
Vice President of the Swiss Federal Supreme Court

Sehr geehrter Herr Präsident von Ungarn,
Sehr geehrter Herr Justizminister,
Sehr geehrter Herr Präsident des Verfassungsgerichts von Ungarn,
Sehr geehrte Damen und Herren,

1. Einleitung

Das ungarische Verfassungsgericht hat auch die Schweiz als Nicht-Mitglied der EU zu dieser Tagung eingeladen – wofür wir uns herzlich bedanken – und hat uns ebenfalls für eine kurze Präsentation angefragt. Auch wenn wir aufgrund unserer besonderen Situation als «Aussenseiter» wenig zur inner-unionsrechtlichen Diskussion beitragen können, sind wir dem gerne nachgekommen. Gemäss dem Titel der Tagung geht es um gemeinsame und besondere Werte oder um Begriffe wie Europäische Identität und nationale Identitäten. Ich möchte dieses Thema unter zwei Gesichtspunkten angehen: Einerseits inhaltlich: Welche Werte sind aus Sicht der Schweiz gemeinsame Werte und wo bestehen entscheidende Unterschiede? Und andererseits institutionell: wie bzw. durch wen könnten bei einem allfälligen Beitritt die spezifischen, für die schweizerische Identität massgeblichen Werte gewahrt werden.

2. Gemeinsame und verschiedene Werte

2.1. Die Schweiz als Teil einer europäischen Wertegemeinschaft

Das Verhältnis der Schweiz zur EU und ihren Mitgliedstaaten wird in der Schweizerischen Bundesverfassung (BV) nicht geregelt. Die Bundesverfassung ist – was für ein Nichtmitglied ja auch nicht überraschend ist – europaneutral[1]. Die schweizerische Verfassungslehre verwendet den Begriff der Verfassungsidentität, wie er von EU-Mitgliedländern geprägt[2] bzw. verwendet[3] wird, nicht. In einem beschreibenden Sinn werden aber als „tragende Strukturelemente der schweizerischen Verfassungsordnung”[4] verstanden die halbdirekte Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, Bundesstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit. Im Zusammenhang mit der – allerdings nur in der Lehre geführten – Diskussion um materielle Schranken der Verfassungsrevision werden darüber hinaus namentlich genannt: die Menschenrechte, die politischen Rechte, die notwendigen Organe der Verfassungsgebung und die Mehrsprachigkeit[5].

Damit enthält unser Verfassungsrecht (zumindest auch) jene Prinzipien, wie sie in Art. 2 EUV als grundlegende Werte der Union aufgeführt werden. Wenn man davon ausgeht, dass mit Art. 2 EUV ein „harter Kern” inhaltlich bestimmter Kriterien benannt werden sollte, die für die Mitgliedstaaten und die Union gemeinsame, Einheit stiftende Ordnungsprinzipien darstellen, also gleichsam den materiellen Gehalt einer Europäischen Identität[6] ausmachen, dann kann man ohne weiteres sagen, dass die Schweiz diesen Wertekanon teilt. Das ist nicht verwunderlich, handelt es sich doch um klassische Strukturmerkmale eines freiheitlichen Verfassungsstaates.

2.2. Die halbdirekte Demokratie als „particular value”

Wie erwähnt, ist eines der Strukturelemente unserer Verfassung die halbdirekte Demokratie. Die Instrumente der direkten Demokratie – neben der Initiative auch das Referendum gegen Gesetze und Bundesbeschlüsse – ist ein Charakteristikum der Schweiz. Der Schweizer Bürger ist sich gewohnt und identifiziert sich seit jeher damit, in Sachgeschäften direkt mitzusprechen (Referendum) oder Verfassungsrevisionen zu initiieren. Seine Mitwirkung im Staat ist nicht erschöpft mit der Wahl seiner Repräsentanten ins Parlament. Die direkte Demokratie gilt als „Kern der schweizerischen Staatsidee”, als „Identitätsfaktor par excellence”, die in der (auch ohne Einwanderung) multikulturellen Schweiz „eine eigentlich staatsbildende und integrierende Funktion” erfüllt[7]. Die Instrumente der direkten Demokratie sind das Identitätsmerkmal oder „particular value”, das die Schweiz von andern europäischen Staaten abgrenzt.

Angesichts der vom EU-Recht bereits heute erfassten umfangreichen und wichtigen Bereiche und der Tatsache, dass das Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 1 und 3 EUV) bislang kaum eine praktische Wirkung in der Rechtsprechung des EuGH zeigte[8], würden die direktdemokratischen Instrumente mit dem Entscheid der Schweiz zum Beitritt massgeblich an Gewicht verlieren. Dabei geht es weniger darum, diesen Bereich zu quantifizieren, wie ein bekannter Schweizer Staatsrechtslehrer einmal formuliert hat: Wichtiger als das rein Zahlenmässige wäre nämlich die Tatsache, dass die Stimmberechtigten nicht mehr jede beliebige Frage mittels einer Volksinitiative zum Gegenstand einer Volksabstimmung machen könnten[9]. Deswegen lässt sich nicht sagen, es gehe schlicht um den gleichen Souveränitätsverlust, wie er für jedes Land mit dem Beitritt entstehe[10]. Es geht vielmehr um den weitgehenden Verzicht auf ein Instrument, dem in der multikulturellen Eidgenossenschaft eine staatsbildende und integrierende Funktion zukommt[11] und das meines Erachtens auch dazu geführt hat, dass in der Schweiz weniger als in anderen europäischen Ländern eine Entfremdung zwischen den Bürgern und der sog. Elite feststellbar ist.

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hangzott el. A teljes előadás szövegét az Alkotmánybírósági Szemle 2020. évi különszámában nyomtatott változatában olvashatja el. Előfizetni a folyóiratra itt tud.


[1] ANDREAS R. ZIEGLER/KERSTIN ODENDAHL, in: Die schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. Aufl. 2014, Rn. 39 zu Bundesverfassung und Völkerrecht. Vgl. demgegenüber für das deutsche Grundgesetz (GG), wonach die deutsche Verfassung „auf die europäische Integration gerichtet“ sei und ein „organisiertes Miteinander in Europa“ wolle: BVerfGE 123, 267, Urteil vom 30. Juni 2009 (2 BvE 2/08), Rn. 222 (Lissabon-Urteil).

[2] Namentlich das deutsche Bundesverfassungsgericht: vgl. BVerfGE 123, 267 (FN 1), Rn. 240; BVerfGE 129, 124, Urteil vom 7. September 2011 (2Bvr 987/10), Rn. 101; BVerfGE 134, 366, Beschluss des Zweiten Senats vom 14. Januar 2014 (2 BvR 2728/13), Rn. 29; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2015 (2 BvR 2735/14), Rn. 40 ff.

[3] Vgl. der französische Conseil constitutionnel no 2006-540 DC vom 27. Juli 2006, Rn. 19: Schranke für das EU-Recht sei ein “principe inhérent à l’identité constituionelle de la France, sauf à ce que le constituant y ait consenti». Ebenso: Conseil constitutionnel no 2011-631 vom 9. Juni 2011 betr. Loi relative à l’immigration, à l‘intégration et à la nationalité. Vgl. auch DOMINIQUE ROUSSEAU, Die Verfassungsidentität – Schutzschirm für die nationale Identität oder Teil des europäischen Sterns? In: Jahrbuch des öffentlichen Rechts 2015, S. 91 ff., S. 92 und drei dort erwähnte Entscheide.

[4] Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats Hans Fehr 10.3857, Konsequenzen des Schengen-Anpassungszwangs, BBl 2013 6319 ff., 6375 (zit. „Schengen-Anpassungszwang“); RENÉ RHINOW, Die Bundesverfassung 2000, 2000, S. 34 f.

[5] Vgl. die Hinweise bei YVO HANGARTNER/BERNHARD EHRENZELLER, in: Die schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. Aufl. 2014, Rn. 14 Vorb. zu Art. 192-195 BV; ZIEGLER/ODENDAHL (FN 1), Rn. 36 zu: Bundesverfassung und Völkerrecht.

[6] MEINRAD HILF/FRANK SCHORKOPF, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 2018, N. 9f. und N.12 zu Art. 2 EUV.

[7] BERNHARD EHRENZELLER/ROGER NOBS, in: Die Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. Aufl. 2014, Rn. 6 f. Vorb. zu Art. 136-142 BV; ähnlich: PASCAL MAHON/CHRISTOPH MÜLLER, L’adhésion de la Suisse à l’Union euroéenne et démocratie directe, in: Thomas Cottier/Alwin R. Kopse (Hrsg.), Der Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union, 1998, S. 449 ff., S. 467; je mit weiteren Hinweisen.

[8] Vgl. JOSEF ISENSEE, Europäisches Gemeinwohl im Mass der Subsidiarität, in: Privatrecht, Wirtschaftsrecht, Verfassungsrecht, Festschrift für Peter-Christian Müller-Graff, 2015, S. 1165 ff., S. 1177; NINA WUNDERLICH, Subsidiarität nach Lissabon, in: EuR Europarecht 2015, S. 119 ff., S. 120; CHRISTIAN CALLIESS, in: Calliess/Ruffert, EUV- AEUV, Kommentar, 5. Aufl. 2016, Rn. 34 und Rn. 66 ff. zu Art. 5 EUV.

[9] DIETRICH SCHINDLER, Verfassungsrecht, in: Schindler u.a. (Hrsg.), Die Europaverträglichkeit des schweizerischen Rechts, 1990, S. 23.

[10] So aber: MAHON/MÜLLER (FN 7), S. 459 und 469.

[11] Nicht vergleichbar damit ist die in Art. 11 Abs. 4 EUV vorgesehene Bürgerinitiative, welche die Kommission zu nichts verpflichtet. Vgl. dazu SILKE STEINER, Demokratieprinzip und Unionsbürgerschaft, in: EuR Europarecht 2015, S. 157 ff., S. 166 („eher schwaches Mittel“).