Werteorientierung in der EU: Gift oder Lebenselixier?

| EUdentity 2019

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Előadó:
Mr. Andreas Voßkuhle
President of the Federal Constitutional Court of Germany

I. Warum müssen wie heute über Werte sprechen?

Wer mit „Constitutional EUdentity“ die Frage nach der konstitutionellen Identität der EU stellt, kann die Frage nach gemeinsamen Werten in Europa nicht vermeiden. Identität ist ein Ausdruck, der die Eigentümlichkeiten und die Wesensmerkmale einer Entität beschreibt, die diese kennzeichnen und eigentlich ausmachen. Was die EU als Wertegemeinschaft ausmacht, sagt Art. 2 EUV: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Damit, so könnte man meinen, ist bereits alles gesagt. Art. 2 EUV erscheint als feierliche Niederlegung des gegenseitig gegebenen europäischen Kernversprechens, als Endpunkt der abgeschlossenen Identitätsfindung, Warum also – dies meine erste von drei Fragen, denen ich im Folgenden nachgehen möchte – müssen wir heute über Werte reden?

In der jüngeren Vergangenheit gibt es Anzeichen, dass in den Mitgliedstaaten der EU unterschiedliche Vorstellungen über den Gehalt dieser Werte bestehen. Das wird besonders deutlich beim Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, welches gerade in Zusammenhang mit mitgliedstaatlichen Justizreformen Bezugspunkt kontroverser Diskussionen ist.

Aus mindestens drei Gründen müssen uns meiner Meinung nach diese grundsätzlichen Wertekontroversen beunruhigen. Der erste Grund ist nur vordergründig eher praktischer Natur. Das europäische Rechtssystem basiert in vielen Bereichen auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, d.h. auf der Anerkennung rechtlicher Akte anderer Mitgliedstaaten ohne vertiefte eigene rechtliche Überprüfung.[1] Wo dieses Vertrauen fehlt, entstehen erhebliche Funktionsdefizite.[2] Vor kurzem legte der irische High Court dem EuGH die Frage vor, unter welchen Voraussetzungen der Vollzug eines europäischen Haftbefehls polnischer Gerichte aufgrund der rechtsstaatlichen Defizite in Polen ausgesetzt werden könne. Mit seinem Urteil vom 25. Juli 2018 hat der EuGH den Ball wieder in das Feld der nationalen Gerichte zurückgespielt.[3] Liegt (noch) kein Beschluss des Europäischen Rats nach Art. 7 Abs. 2 EUV vor, trifft danach das an der Gewährleistung eines fairen Verfahrens im Auslieferungszielstaat zweifelnde Gericht eine mehrstufige Prüfpflicht, ob es den Haftbefehl vollzieht. Was das in der Praxis bedeutet, ist noch unklar.[4] Klar ist aber: Auch Gerichten in Deutschland, Frankreich oder Italien kann vor diesem Hintergrund die Situation in Polen, Rumänien oder Ungarn nicht egal sein.

Ön itt egy előadásrészletet talál, ami a 2019. március 8-án, Constitutional EUdentity 2019 címmel megrendezett konferencián
hangzott el. A teljes előadás szövegét az Alkotmánybírósági Szemle 2020. évi különszámában nyomtatott változatában olvashatja el. Előfizetni a folyóiratra itt tud.


[1] Näher Kaufhold, Gegenseitiges Vertrauen: Wirksamkeitsbedingung und Rechtsprinzip der justiziellen Zusammenarbeit im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, EuR 2012, S. 408 ff.; Classen, Gegenseitige Anerkennung und gegenseitiges Vertrauen im europäischen Rechtsraum, in: Becker/Hatje/u.a. (Hrsg.), Festschrift für Jürgen Schwarze, 2014, S. 556 ff.; Hartmann, Europäisierung und Verbundvertrauen, 2015.

[2] Kritisch deshalb v. Bogdandy, Jenseits der Rechtsgemeinschaft – Begriffsarbeit in der europäischen Sinn- und Rechtsstaatlichkeitskrise, EuR 2017, S. 487 (503); a.A. Skouris, Demokratie und Rechtsstaat – Europäische Union in der Krise?, 2018, S. 118 f. Fn. 49.

[3] EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018 – Rs. C-216/18 – „Minister for Justice and Equality/LM“.

[4] Der irische High Court hat unterdessen einen ersten Aufschlag gemacht: Entscheidung vom 1. August 2018 – [2018] IEHC 484 – Minister for Justice and Equality -v- Celmer (No.4) (Quelle: https://www.bailii.org/ie/cases/IEHC/2018/H484.html, zuletzt abgerufen am 26. März 2019).